Die Geschichtenerzählerin – Ein Weihnachtsmärchen

Die Geschichtenerzählerin

Ein Tropfen perlte von einem der Eiszapfen, die am Schieferdach hingen, auf die Scheibe und bahnte sich seinen Weg durch die Eisblumen, wie eine Träne über eine zerfurchte Wangen, bevor er auf den verschneiten Sims fiel und erstarrte. Helene hob die Hand, um ihren Atemnebel von der Scheibe zu wischen, doch selbst diese im Grunde so einfache Bewegung fiel ihr schwer. Der Bader war am Vortag im Hause gewesen und hatte sie zur Ader gelassen, das sorgenvolle Wiegen seines Kopfes dabei hatte jedoch nichts Gutes verhießen. Die Schmerzen in ihrem schmächtigen, jungen Körper waren wieder schlimmer geworden, gehen konnte sie kaum mehr.

Ihre acht Geschwister, fünf Mädchen und drei Buben, tobten im Frostwetter umher, bewarfen sich mit Schneebällen und bauten einen Schneemann, so hoch wie die Tanne, die sie vor sechs Jahren gepflanzt hatten, und die nun im hellen Sonnenlicht ihre Eiskristalle, mit denen sie bedeckt war, funkeln ließ.

Helene hörte das Trappeln von Kinderstiefeln, als ihre kleine Schwester Marie aus der Küche eine gelbe Rübe für die Nase holte. Sie schaute ihren Geschwistern zu, wie sie eifrig den Schneemann fertigstellten und stolz begutachteten. Gedanken wirbelten durch ihren Kopf wie die Schneeflocken vor dem Fenster, legten sich nieder und verfestigten sich wie harscher Firn zu Sätzen, bis sie eine ganze Geschichte bildeten, über Frostling, den Schneemann. Während sie ihre Erzählung zusammenspann, verspürte sie keine Schmerzen mehr, war völlig entrückt in die frostige Welt und die Erlebnisse des kleinen Schneemenschen.

Sie schrak zusammen, als der kleine Johannes, der mit seinen vier Jahren ein Dutzend Jahre jünger als sie war, hereinstürmte und ihr eine Handvoll Schnee in ihre steifen Finger drückte.

„Hab dir bisschen Snee debringt, Henele, weil du nich‘ raus kanns‘“, verkündete er mit stolzer Miene. Seine Bäckchen glänzten wie rote Äpfel und sein kleiner Körper dampfte in der vom knisternden Kaminfeuer gewärmten Stube und strahlte einen Geruch nach frischer Winterluft aus.

„Danke, Hannes, wie lieb von dir“, erwiderte sie gerührt und versuchte, den Arm auszustrecken, um ihm über die Wange zu streichen, doch er war schon wie ein Wirbelwind davongestürmt, hinaus ins Schneegestöber.

Der Schnee schmolz in ihren klammen Fingern, troff über die Wolldecke, die über ihren reglosen Beinen lag und durchweichte diese. Die Kälte schmerzte in ihren Glieder, dennoch lächelte sie.

Als die Mutter eine Weile später die Stube betrat, schrak sie zusammen beim Anblick des feuchten Flecks auf Helenes Schoß. Schimpfend, weil sie nicht gerufen hatte, wischte sie eilends mit ihrer, mit Teig verunzierten, Schürze die erste Bescherung ab, bevor sie hinfort eilte, um eine trockene Decke zu holen. Bei Helenes angeschlagenem Zustand bedeutete Nässe und Kälte eine große Gefahr für sie.

Zusammen mit Helenes ältestem Bruder Kurt bettete sie Helene in den Sessel vor dem Kamin und deckte sie warm zu, bevor sie ihr einen duftenden Kräutertee servierte. Die Scheite knackten im Kamin und verbreiteten eine wohlige Wärme, die sich mit der in ihrem Inneren mischte, das von der liebevollen Fürsorge herrührte.

Als die Mutter ihr noch das Buch mit den Weihnachtsgeschichten herbeibrachte, war sie vor Rührung den Tränen nahe.

Ihr Vater, der Dorflehrer, hatte ihr einst das Lesen beigebracht, und da sie schon als Kind wegen ihrer Schwäche kaum aus dem Hause gekommen war, hatte sie jeglichen Lesestoff verschlungen und die knittrigen Buchseiten, die sie in zauberhafte Welten entführten, zu lieben gelernt. Sorgsam strich sie über die vergilbten Blätter, als sie sich in eine Geschichte über das Christkind vertiefte. Es wurde ihr gar nicht richtig gewahr, dass ihre Familie nach und nach in die Stube zurückkam, bis ihre Mutter zwei Kerzen auf dem Adventskranz anzündete und das Früchtebrot dazu servierte, das sie immer zu diesen Tagen buk. Der Duft nach Zimt und getrockneten Feigen mischte sich mit dem nach den knisternden Tannenzweigen des Holzfeuers.

Die Töne der Adventslieder, die in ihren Kehlen jubilierten, tanzten durchs Zimmer, hinaus in die frostige Dämmerung.

„Erzählst du uns eine Geschichte?“, bettelte die kleine Marie, an Helene gewandt, als sie zusammen vor dem Kamin saßen.

„Soll ich euch eine vorlesen?“, fragte Helene lächelnd und deutete ihr an, die Kerze näher zu rücken, wenn auch das Halten des Buches sie sehr ermüdete.

„Nein, erzähl uns eine von dir“, bat Marie mit leuchtenden Augen.

Helene hatte ihre Lieben schon zu dem ein oder anderen Anlass mit ihren selbst ausgedachten Geschichten verzaubert. Kurz schloss sie die Lider, dann begann sie von Frostling, dem Schneemann zu erzählen, der sich auf die Reise zur Eisfee machte und viele aufregende Abenteuer bestand.

Gebannt lauschten ihre Familie, während draußen, in dunkler Nacht, die ersten Sterne am Firmament funkelten.

„Und wie geht es weiter?“, fragte Hubert gespannt, als Helene einhielt, nachdem Frostling die Eisfee gefunden hatte.

„Wird Frostling die Eisfee ehelichen?“, fragte die Großmutter, die ebenfalls entrückt gelauscht hatte.

Helene blickte nachdenklich zur Holzdecke, an die das Kerzenlicht eigenartige Gestalten malte.

„Nein“, fuhr sie langsam fort. „Das Reich der Eisfee war nicht Frostlings Zuhause, er musste wieder dorthin zurück, wo er hergekommen war.“

„In unser’n Hof?“, fragte Johannes, und spähte durch das Fenster hinaus, als könne er dort Frostling mit geschultertem Säckel entdecken.

Helene lächelte. „Ja, genau, dort blieb er, bis das Frühjahr ins Land zog.“

„Aber dann schmilzter doch“, lachte der Kleine auf.

Seine große Schwester nickte. „Genau, Hannes. Dort wird er zu Wasser für die schönen Frühlingsblumen, die dann gedeihen und sprießen können.“

Ihre Geschwister zogen betrübte Gesichter, sie hätten sich gerne ein fröhliches Ende für seine Abenteuer gewünscht.

„Der liebe Herrgott hat den kleinen Frostling zu sich gerufen, weil seine Zeit gekommen war, wie sie für jeden von uns früher oder später kommen wird, wenn Er es für richtig hält“, erwiderte Helene mit einem, für ein Mädchen ihres Alters, ungewöhnlichen Ernst. „Und auch der kleine Frostling stieg auf in den Himmel und wurde zu einem glitzernden Stern, der euch nachts den Weg heimleuchten kann.“

Der Vater stand auf und klatschte in die Hände. „Vielen Dank, Helene, das war bezaubernd. Kinder, wascht euch die Gesichter und Hände, und dann geht in die Küche, um eurer Mutter beim Abendbrot richten zu helfen.“

An Helene gewandt setzte er leise hinzu: „Du solltest deine Geschichten aufschreiben, mein Liebes. Sie sind so wunderbar, dann kannst du sie wieder und wieder anschauen, ohne dass sie dir verloren gehen.“

Erstaunt blickte die Angesprochene auf. „Oh, Vater, welch wundervoller Einfall!“

Bereits am nächsten Tag brachte der Vater ihr Papier und eine Feder aus den Schulbeständen mit. Diese Aufgabe schien ihr neuen Lebensmut einzuhauchen, ihre blassen Wangen färbten sich zartrosa, wenn sie in fremden Welten versunken am blankgescheuerten Tische saß.

Wann immer es Helenes Wohlbefinden zuließ, kritzelte die Feder eifrig über das Papier, während ihr Zünglein angestrengt von Mundwinkel zu Mundwinkel flitzte und Kerze um Kerze herunterbrannte und einen lieblichen Duft nach Bienenwachs verströmte. Doch je größer der Papierstapel wurde, je mehr Figuren Helenes Kopf verließen und sich in der pergamentenen Ewigkeit niederließen, desto schwächer wurde auch ihr Zustand wieder.

Der Bader, der wie die gesamte Familie auf Besserung gehofft hatte, stand mit sorgenvoller Miene an ihrer Ruhestätte, als ein erneuter Schwächeanfall sie darnieder raffte und sie weiß wie das Mehl in Mutters Küche in ihren Kissen lag.

Es war zwei Tage vor dem Heiligen Abend, als der liebe Herrgott Helene zu sich rief.

Das Christfest war für die Familie ein recht trauriger Anlass ohne Helene, die so viel Ruhe und Friede verströmt hatte und nun eine tiefe Lücke hinterließ.

Als die Familie unter dem Christbaum die Lieder zur heiligen Nacht gesungen und dem Herrgott für alle Gaben gedankt hatte, holte der Vater Helenes Aufschriebe hervor und begann, eine Geschichte daraus vorzulesen.

Und plötzlich ward es, als würde Helene unter ihnen sitzen, ihr Lachen verbreiten, als würde sie durch ihre Erzählungen wieder selbst lebendig werden. Ein Stück von ihr würde durch ihre Geschichten niemals in Vergessenheit geraten und immer in den Menschen um sie herum vorhanden sein, wie es seit Gedenkzeiten durch Bücher geschehen war.

Und draußen, vor dem Fenster, funkelte ein Stern besonders hell am Nachthimmel an diesem Weihnachtsabend.

(c) Ute Bareiss

Wenn einer eine Reise tut … – Visa-Info

Wenn man mit dem Schiff unterwegs ist, sind die in vielen Ländern üblichen “Visa on arrival” meist nicht möglich. Wieder füllen sich unsere Reisepässe mit neuen Visaaufklebern – dieses Mal Thailand und Indien. Hier einige Infos dazu:
Wie immer läuft die Beantragung des Thailändischen Visums unkompliziert ab: Ein Besuch auf dem Honorarkonsulat in Stuttgart (persönliches Erscheinen ist Pflicht),  Formular ausfüllen, zwei Passbilder, Kopie der Einreiseunterlagen – und selbst wenn man (wie wir und zwei unserer Vorgänger) die Flugunterlagen nicht dabei hat, kann man diese mit dem Rechner der benachbarten Bibliothek fix ausdrucken. Keine halbe Stunde später sind wir stolze Besitzer von 2 x 60 Tagen Reisevisum für Thailand (je 60 Euro).
Danach wird unsere Reise weitergehen nach Indien. Auch die Beantragung dieser Visa (180 Tage, double entry/gut 70 Euro p.P.) ist im Grunde nicht wirklich kompliziert – wenn man denn darauf achtet, wie man im Online-Formular, das zwingend vorher ausgefüllt werden muss, das Datumsformat (Geburtsdatum und geplante Einreise) eingibt, denn eine Fehlermeldung gibt es nicht, sondern man kommt einfach wieder zurück auf die Startseite. Da helfen natürlich auch die verschiedenen Browser nichts … 😉
Also wichtig: Datum wie in der Vorlage mit / eingeben (dd/mm/yyyy)!
Die Beantragung erfolgt nicht im Konsulat, sondern auf der eigens eingerichteten Stelle IVS Germany Schellingstr. 35. Der persönliche Besuch in München (die zugehörige Stelle für Baden-Württemberg und Bayern) ist nicht zwingend erforderlich, die Beantragung ist postalisch möglich – uns erschien es sicherer, die Pässe nicht aus der Hand zu geben. Morgens Abgabe, mittags Abholung, wie uns am Telefon mitgeteilt wurde, bezieht sich allerdings nicht auf den selben Tag, das wissen wir jetzt auch. Dauer ca. 7-10 Tage. Die beiden benötigten Passbilder im etwas ungewöhnlichen Format 5 x 5 cm kann man direkt vor Ort machen. Um uns einen erneuten Weg nach München zu ersparen, haben wir die Option “Zusendung” gewählt (die Reisepässe werden uns also hoffentlich in den nächsten Tagen per Einschreiben zugehen). Wir lassen uns überraschen … 😀
Es ist schon unglaublich, wie abhängig man mit der Zeit von diesem weinroten Papier-Ding ist und wie unwohl man sich fühlt, wenn man es aus den Händen gibt … 😀

Wir freuen uns schon sehr auf die vor uns liegenden Abenteuer, wie die weit abgelegenen Andaman Islands, in denen der Tourismus noch nicht wirklich eingezogen ist  … 🙂

Taka Bonerate 025

Recherchereise nach Borneo, Tag 5

13.04.14 Tag 5:
Kutai National Park

(Bilder folgen)

Am Flussufer erwartet uns am nächsten Morgen Udin, ein Ranger des Kutai National Parks. Mit einem motorisierten Kanu gleiten wir durch den Fluss, halten Ausschau nach Krokodilen, die es hier gibt, doch wir sehen leider keine. Prefab, die Station, die einst von den Kohleminen-Betreibern gebaut wurde, liegt in einem Stück dichten Urwalds, in dem rund 25-30 wilde Orang-Utans leben. Wir machen uns mit Udin auf den Weg. Er läuft langsam und vorsichtig, hebt immer wieder lauschend den Kopf, wenn etwas im Gebüsch raschelt. Die Aufregung steigt. Immer wieder weist er uns auf Besonderheiten hin, mal ein paar obskure Käfer, die sich zu Kugeln zusammenrollen und auch mal beim Liebe machen sind, dann ein flinker Tausendfüßler. Doch endlich hebt sich sein Kopf und er winkt uns näher. Es blitzt kastanienrot aus dem Geäst. Eine Orang-Utan-Mutter klettert mit ihrem Jungen, der sich an ihrer Seite festklammert, durch die Baumkrone. Mit dem Fernglas beobachten wir sie, Auge in Auge. Als ich mit Hajot spreche, lugt der Kleine neugierig herunter. Die Träne aus meinem Augenwinkel läuft wohl nicht nur herunter, weil ich gegen die durch die Blätter blitzende Sonne schauen muss. Ein wahnsinniges Gefühl, diese tollen Tiere in freier Wildbahn zu sehen – unbeschreiblich!
Sie fressen die jungen Blätter des Ironwood-Baumes, eine ihre Leibspeisen. Dann ziehen sie weiter zur nächsten Futterstelle. Orang-Utans haben quasi ein eingebautes Navigationssystem, mit dem sie in ihrem Revier jederzeit wissen, wo welche Nahrung wann zu finden ist. Die Mutter bricht einen Ast ab, sucht nach Ameisen. Krachend fällt er durchs Geäst nach unten. Sie ziehen weiter ihren Weg auf der Suche nach Nahrung, bis wir ihnen nicht mehr folgen können. Doch kurz darauf entdeckt Udin die nächste Mutter. Auch dieser Kleine ist knapp 5 Jahre alt und sehr agil. Er legt für uns ein Turnprogramm ein, schaukelt an den Ästen und schaut immer zu uns herunter, als wollte er für uns vorführen. Nachsichtig fasst seine Mutter nach ihm, als wollte sie uns sagen „immer diese Jungspunde“, und gibt ihm ein paar hellgrüne Blätter zu fressen. Und die Blätter ganz am Ende des Zweigs scheinen ihm am verlockendsten zu sein, doch hier gibt der Ast nach. Man kann dem Kleinen förmlich ansehen, wie er grübelt. Dann baut er sich eine Schlinge, zieht den Ast her und futtert gemütlich. Er linst herunter, als wollte er sich versichern, ob wir es auch gesehen haben, wie klug er ist. Gut, dass die Ohren mein glückliches Grinsen eindämmen. Dann streckt die Mutter den Arm aus, der Kleine klettert in ihre Armbeuge, gibt ihr einen Kuss, dann geht es weiter. Geschickt hangelt sie sich von Ast zu Ast, manchmal schwingt sie einen kompletten Baum, um an den nächsten zu gelangen.
Der Regenwald hier ist noch intakt, dieses kleine Stück wurde von den außen herum tobenden Bränden und Abholzungen verschont. Es wachsen riesige Bangrassi Bäumen mit ausladenden meterhohen Wurzeln. Die Orang-Utan-Mutter hält am nächsten Ironwood-Baum an und isst, schaut uns dabei zu, wie wir die beiden anhimmeln. Schweren Herzens ziehen wir weiter.
Von der Lodge empfangen uns schon köstliche Düfte. Rahim zaubert gegrillten Fisch, Tintenfisch im eigenen Saft, Gemüse, Sambal, Minze und Reis. Wir bieten ihm einen Job als Koch auf der Taimada an – es ist wieder köstlich. Der vor der Lodge lebende Waren macht sich über unsere Reste her.
Am Mittag stößt Iris, eine junge, deutsche Backpackerin, zu uns. Andere Gäste sind wir schon gar nicht mehr gewohnt. Gemeinsam gehen wir nochmals in den Urwald.
Die Orang-Utan-Mutter und ihr Junges sind gerade vom Mittagschlaf erwacht und verlassen ihr provisorisches Schlafnest. Für den Abend wird sie ein aufwändigeres Nest bauen, erklärt uns Udin. Nur wenige Meter über unseren Köpfen klettern die beiden umher und futtern. Der Blick in diese wissenden braunen Augen verursacht mir eine Gänsehaut.
Wir machen eine richtige lange Tour, teilweise schlägt Udin uns eine Schneise mit der Machete, erkämpfen uns einen Weg. Ein Blutegel macht sich auf meinem Schuh auf in Richtung Fußgelenk. Doch Udin packt ungerührt eine Dose mit Salz heraus, streut eine Prise darauf. Der Egel windet sich. Das ist – neben Tabak – die Methode der Wahl, um sich dieser kleinen Ekel zu entledigen. Der Weg führt bergauf und –ab, durch dichtes Laub. Es ist angenehm kühl im Wald. Doch plötzlich stehen wir vor einem Abgrund. Ein schmaler vermooster Balken führt darüber. Udin spaziert darüber, als wäre es eine breite Straße. Mein Balanceakt ist weitaus weniger elegant, das Herz rast mit dreifacher Geschwindigkeit. Doch das stolze Gefühl, dass ich es geschafft habe, hält nur kurz an. Der nächste Abgrund ist viel breiter. Und ein rutschiger dicker Baumstamm führt darüber. Endlose Meter weit. Wären die Ufer des Abgrunds nicht so steil und schlammig, würde ich unten durch robben. Schlangen, Spinnen … alles kein Problem, aber Balancieren war noch nie meines. Doch es gibt kein Zurück. An Udins Hand wage ich mich mit zittrigen Knien – versuche, seine Hand nicht zu quetschen und cool zu bleiben. Da bleibt einem auch nichts erspart. Ich bin froh, als ich auf der anderen Seite bin.
Einen Schluck Wasser haben wir uns danach verdient – direkt frisch aus der Liane. Es schmeckt köstlich.
An der Lodge empfangen uns schreiend ein paar Makaken, jagen sich gegenseitig über die Bäume. Wir freuen uns, auch wenn sie hier nicht so gerngesehen sind, weil sie öfter Lebensmittel aus der Küche stehlen.
Nachdem Rahim uns wieder mit einem leckeren Abendessen verwöhnt hat: Gemüsesuppe, gefolgt von Huhn, Wasserspinat und Reis mit selbstgemachtem Sambal, machen wir uns – dick mit Mückenspray eingenebelt, denn die Moskitos hier sind zahlreich – ein drittes Mal auf in den Urwald zur Nachtwanderung. Gespenstisch huscht unser Lampenstrahl durch die Bäume. Der feuchte Modergeruch legt sich auf unsere Atemwege. Iris hat Angst, sie ist noch nicht so regenwalderprobt, aber es ist auch eine unheimliche Atmosphäre. Die Orang-Utans schlafen jetzt, doch Schlangen, Taranteln, Leoparden und Bären werden nachtaktiv. Auch Hundertfüßler, von dem wir einige sehr aktiv sehen, sind extrem giftig. Ein kleiner Skorpion kriecht einen Baum hinauf. Es ist spannend.
Wir machen uns auf die Suche nach Taranteln, schlagen uns quer durchs Unterholz. Unser Führer ist ein junger Dayak, er wirkt nervös. Nach einer ganzen Weile weist er uns – fernab des Wegs – an, unsere Lampen auszuschalten. Düsternis umhüllt uns, es raschelt im Gebüsch. Das Grillenzirpen wirkt plötzlich lauter. Wir stehen starr.
Er schaltet seine Lampe wieder ein – strahlt direkt eine Tarantel, einiges größer als mein Handteller, an. Fast samtig sieht ihr Körper mit den kurzen Haaren aus – man möchte direkt darüber streichen. Regungslos sitzt sie da, nur die Augen leuchten rot hervor. Wie schießen wie wild Fotos, können uns gar nicht mehr losreißen.
Der Rückweg wird obskur. Plötzlich wird unser Führer hektisch, rast voran. Schlägt sich mit der Machete durchs Unterholz. Ob wir uns wohl verlaufen haben? Wir können nicht fragen, er spricht kein Englisch. Und wir wollen ihn auch nicht noch zusätzlich unter Stress setzen. Vielleicht wollen wir es auch lieber gar nicht wissen. Plötzlich schreit Iris auf. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Doch es war nur eine Riesenheuschrecke, die sie angesprungen hat. Allerdings ist sie wirklich riesig, über 15 cm lang. Ich fühle mich zwar wohl im Urwald, auch bei Nacht, doch so langsam werde ich auch nervös – hier zu nächtigen reizt mich nicht wirklich. Für den geplanten Kurztrip hatten wir nicht mal Wasser eingepackt.
Kreuz und quer schlagen wir uns durchs dichte Geäst, die Haare verhängen sich an den Zweigen. Die feuchte Luft wird drückend, das Sirren der Moskitos zerrt an den Nerven. Aus der geplanten halben Stunde sind längst eineinhalb geworden. Durch die Baumwipfel blitzt der Mond, gibt jedoch kaum Orientierung, so senkrecht, wie er über uns steht. Weit entfernt hört man ein Boot auf dem Fluss tuckern, ich versuche, mir die Richtung zu merken. Der Fluss führt zur Lodge. An die Krokodile am Ufer, die nachtaktiv sind, kann man später denken. Doch endlich – gefühlte Stunden später – tut sich wieder ein Weg auf. Unser Führer wird wieder langsamer. Nun können wir auch wieder entspannt einen Baumfrosch bewundern und tellergroße Falter. Und die Zikaden, die tags ganz weiß schienen, tragen nachts einen blau-bunt gemusterten Schlafanzug.
Wohlbehalten kommen wir einige Zeit später als geplant zurück. Gute zwei Stunden waren wir unterwegs. Das eisgekühlte Bier hat selten so gut geschmeckt. Hajot hat einen Blutegel am Fuß, der sich so richtig vollgesaugt hat. Rahims Salzbehandlung bekommt ihm nicht gut, doch das Nachbluten nach dem Abfallen hält ewig an.
Lange noch plaudern wir mit Rahim – über den Regenwald, Schutzprojekte, die indonesische Politik, die Weltpolitik, die Umwelt, während Udins Frau eine indonesische Variante von „Voice of Germany“ oder „DSDS“ anschaut und manchmal mitsingt. Alles hätten wir hier im mitten Urwald erwartet, nur keinen Fernseher …
Nach Mitternacht liegen wir geborgen auf der weichen Matratze unter unserem Mückennetz und sind dann doch nicht undankbar, die Nacht nicht im Urwald verbringen zu müssen.

Recherchereise nach Borneo, Tag 4 Teil 1

12.04.13 Tag 4:
Huntan Lindung Wehea – Nehas Lian Bing

(Bilder folgen)

Am frühen Morgen fängt es an zu gewittern. In Bächen strömt der Regen an unserer Veranda vorbei. Wir bleiben trocken, doch der Gedanke an den Weg, der sicherlich unpassierbar wird, schießt mir durch den Sinn. Und er soll sich bewahrheiten. Die Sonne blitzt zwar schon längst wieder durch die Wolken, doch die Straße ist nass und schlammig. Bereits die Auffahrt direkt an der Lodge wird schon unpassierbar, tief graben sich die Räder des Geländewagens in den Schlamm. Unser Fahrer hat schwer zu kämpfen. Wahyu und Rahim steigen aus, werfen Farnwedel vor die Räder, versuchen zu schieben. Unser Hilfsangebot wird vehement abgelehnt. Als ich sehe, wie Rahim barfuß knöcheltief im Matsch steckt und auch Wahyus Stiefel bis oben hin mit Schlamm bedeckt sind, bin ich eigentlich nicht undankbar. Es wird ein Kampf. Millimeterweise kommen wir voran. Mental habe ich das Fest schon abgeschrieben und sehe uns zurück zur Lodge fahren. Doch unser Fahrer beißt sich durch, kurbelt am Steuerrad, das Vierganggetriebe heult gequält auf, gibt laut krachende Geräusche von sich. Durch die geöffnete Scheibe fliegen uns tennisballgroße Schlammbrocken entgegen, der Geruch nach feuchter Erde füllt den Innenraum aus. Teilweise stecken wir bis zum Türholm im Matsch fest. Unfassbar, aber wir schaffen es irgendwie, uns durchzukämpfen. An der Pforte gibt’s erst mal gebratene Nudeln zum Frühstück und Kaffee.

Recherchereise nach Borneo, Tag 4 Teil 2

12.04.13 Tag 4, Teil 2:
Nehas Lian Bing – Sangatta

(Bilder folgen)

In dem Dorf Nehas Lian Bing der Wehea Dayaks herrscht schon buntes Treiben. Der Eingang ist abgeriegelt, doch wir sind herzlich willkommen – die einzigen Langnasen hier. Die Häuser sind hier teilweise auf Stelzen gebaut, viel Holz wird als Baumaterial verwendet. In separaten Stelzenanbauten werden Schweine gehalten, Hühner laufen frei umher. Hier lebt auch noch eine alte Langohr-Dayak-Frau – die gedehnten Ohrläppchen ziehen sich bis zur Brust hinunter. Mit ihrem IPhone am Ohr bietet sie einen richtigen Kulturschock.
Wir kommen genau rechtzeitig zum Kanurennen auf dem großen Kutai River. Gegen die Strömung wird vorangepaddelt, die Rennen erfolgen flussabwärts. Erst kommen die Männer. Bunt verkleidet liefern sie sich harte „Kämpfe“ in ihren wackeligen Kanus. Mit „Pfeilen“ aus Palmwedelstämmen versuchen sie, ihre Gegner zu treffen. Es gibt großes Gelächter und das ein oder andere Boot kentert. Die Sieger werden zwar groß gefeiert und erhalten einen Pokal, doch es scheint hauptsächlich um den Spaß zu gehen. Die Frauen liefern sich ein Speed-Race. Pfeilschnell pflügen ihre Kanus an uns vorbei, wir müssen uns beeilen, um sie überhaupt auf ein Foto zu bekommen. Mit den Einheimischen jubeln wir ihnen vom Ufer aus zu. Wir werden immer wieder neugierig angeschaut, doch Lächeln ist international und diese freundlichen, offenen Menschen machen es einem nicht schwer, sich willkommen zu fühlen. Bald sind wir die „Stars“. Wir kennen es ja schon von den anderen, vom Tourismus bislang verschonten, Inseln von Ost-Indonesien, dass man sich gerne mit uns fotografieren lässt. Auch hier kommen immer wieder aufgeregte Jugendliche auf uns zu, die ein Bild mit uns haben möchte. Und auch das ein oder andere ältere Semester gesellt sich gerne dazu.
Der Brauch bei diesem Fest, auch Irau genannt, ist es, sich gegenseitig mit dem Ruß der Topfunterseiten, der mit Salatöl gemischt ist, das Gesicht zu verschmieren. Und auch mit Wasser zu überschütten soll Glück bringen. Als wir schließlich pitschnass, mit schwarzen Gesichtern durchs Dorf wandeln, sind wir voll akzeptiert. Und überall herrscht Lachen und Freude. Es wird wie wild auf allen Seiten geknipst.
Jedes Haus ist offen, Essen steht bereit und jeder wird willkommen geheißen. Eine Einladung abzulehnen wäre unhöflich. Bei Luwah, die für die Dorfverwaltung arbeitet, gibt es lecker Fisch in verschiedenen Variationen, Klebreis in Palmblättern und etwas Pinkfarbenes, das Kokos enthält und glücklicherweise nicht sehr süß schmeckt. Wir sitzen im Schneidersitz auf dem Boden und lassen es uns schmecken. Nach einem Verdauungsspaziergang durchs Dorf, mit weiteren Rußbeschmierungen und Wassergüssen werden wir bei Yatim, dem Chef der Ranger, eingeladen. Das Huhn, das in Kokossauce schwimmt, ist extrem lecker, doch es gibt kein Besteck. Yatim macht sich auf die Suche nach Löffeln für uns. Meine verschämte Frage an Rahim, ob sie die Sauce denn dann aus dem Teller trinken, verneint er lachend. Die bleibt einfach liegen. Wie sie den schwimmenden Reis essen, bleibt mir ein Rätsel. Wir löffeln alles auf. Die wissen gar nicht, was ihnen entgeht. Auf meine – abermals verschämte – Frage nach einer Toilette erklärt mir Yatim, dass sie in den Fluss gehen. Sein Englisch ist sehr gut, es kann also keine Verständigungsprobleme geben. Er bietet mir an, mich hinzubringen. Ich nicke. Wieder eine neue Erfahrung. Glücklicherweise entdeckt Rahim jedoch ein Stehklo neben einem Haus und schickt mich dorthin.
Bei einer anderen Familie werden wir zum Palmwein eingeladen. Auch sehr interessant. Das Nachschenken in der Mittagshitze lehnen wir jedoch dankend ab, denn dieses Getränk hat es in sich. Natürlich ist auch hier wieder Fotosession angesagt.

Hudoq werden die Tänze genannt, die dazu dienen, die Ernte zu schützen und die Plagen fernzuhalten, sowie um einen reichhaltige Ertrag zu erbitten. Bunt kostümiert, mit Federn von Nashornvögeln als Kopfschmuck und riesigen Masken mit verspiegelten Augen tanzen die Männer auf das großen Fußballfeld. Die flirrende Hitze, die rhythmischen Trommeln und Gesänge und die exotischen Kostüme versetzen uns kurzfristig in eine ganz andere Welt.
Nur schwer trennen wir uns, doch der Weg nach Sangatta ist noch weit und die Straßen sind hier schlecht und noch im Bau. Spät in der Nacht treffen wir in unserem Hotel ein, das ehemals ein Nobelschuppen war. Doch auch hier finden wir Wildlife – 3 Kakerlaken springen in unserem Zimmer herum. Wir trauern dem Dschungel nach, doch der Schlaf holt uns schnell ein.