Die Geschichtenerzählerin – Ein Weihnachtsmärchen

Die Geschichtenerzählerin

Ein Tropfen perlte von einem der Eiszapfen, die am Schieferdach hingen, auf die Scheibe und bahnte sich seinen Weg durch die Eisblumen, wie eine Träne über eine zerfurchte Wangen, bevor er auf den verschneiten Sims fiel und erstarrte. Helene hob die Hand, um ihren Atemnebel von der Scheibe zu wischen, doch selbst diese im Grunde so einfache Bewegung fiel ihr schwer. Der Bader war am Vortag im Hause gewesen und hatte sie zur Ader gelassen, das sorgenvolle Wiegen seines Kopfes dabei hatte jedoch nichts Gutes verhießen. Die Schmerzen in ihrem schmächtigen, jungen Körper waren wieder schlimmer geworden, gehen konnte sie kaum mehr.

Ihre acht Geschwister, fünf Mädchen und drei Buben, tobten im Frostwetter umher, bewarfen sich mit Schneebällen und bauten einen Schneemann, so hoch wie die Tanne, die sie vor sechs Jahren gepflanzt hatten, und die nun im hellen Sonnenlicht ihre Eiskristalle, mit denen sie bedeckt war, funkeln ließ.

Helene hörte das Trappeln von Kinderstiefeln, als ihre kleine Schwester Marie aus der Küche eine gelbe Rübe für die Nase holte. Sie schaute ihren Geschwistern zu, wie sie eifrig den Schneemann fertigstellten und stolz begutachteten. Gedanken wirbelten durch ihren Kopf wie die Schneeflocken vor dem Fenster, legten sich nieder und verfestigten sich wie harscher Firn zu Sätzen, bis sie eine ganze Geschichte bildeten, über Frostling, den Schneemann. Während sie ihre Erzählung zusammenspann, verspürte sie keine Schmerzen mehr, war völlig entrückt in die frostige Welt und die Erlebnisse des kleinen Schneemenschen.

Sie schrak zusammen, als der kleine Johannes, der mit seinen vier Jahren ein Dutzend Jahre jünger als sie war, hereinstürmte und ihr eine Handvoll Schnee in ihre steifen Finger drückte.

„Hab dir bisschen Snee debringt, Henele, weil du nich‘ raus kanns‘“, verkündete er mit stolzer Miene. Seine Bäckchen glänzten wie rote Äpfel und sein kleiner Körper dampfte in der vom knisternden Kaminfeuer gewärmten Stube und strahlte einen Geruch nach frischer Winterluft aus.

„Danke, Hannes, wie lieb von dir“, erwiderte sie gerührt und versuchte, den Arm auszustrecken, um ihm über die Wange zu streichen, doch er war schon wie ein Wirbelwind davongestürmt, hinaus ins Schneegestöber.

Der Schnee schmolz in ihren klammen Fingern, troff über die Wolldecke, die über ihren reglosen Beinen lag und durchweichte diese. Die Kälte schmerzte in ihren Glieder, dennoch lächelte sie.

Als die Mutter eine Weile später die Stube betrat, schrak sie zusammen beim Anblick des feuchten Flecks auf Helenes Schoß. Schimpfend, weil sie nicht gerufen hatte, wischte sie eilends mit ihrer, mit Teig verunzierten, Schürze die erste Bescherung ab, bevor sie hinfort eilte, um eine trockene Decke zu holen. Bei Helenes angeschlagenem Zustand bedeutete Nässe und Kälte eine große Gefahr für sie.

Zusammen mit Helenes ältestem Bruder Kurt bettete sie Helene in den Sessel vor dem Kamin und deckte sie warm zu, bevor sie ihr einen duftenden Kräutertee servierte. Die Scheite knackten im Kamin und verbreiteten eine wohlige Wärme, die sich mit der in ihrem Inneren mischte, das von der liebevollen Fürsorge herrührte.

Als die Mutter ihr noch das Buch mit den Weihnachtsgeschichten herbeibrachte, war sie vor Rührung den Tränen nahe.

Ihr Vater, der Dorflehrer, hatte ihr einst das Lesen beigebracht, und da sie schon als Kind wegen ihrer Schwäche kaum aus dem Hause gekommen war, hatte sie jeglichen Lesestoff verschlungen und die knittrigen Buchseiten, die sie in zauberhafte Welten entführten, zu lieben gelernt. Sorgsam strich sie über die vergilbten Blätter, als sie sich in eine Geschichte über das Christkind vertiefte. Es wurde ihr gar nicht richtig gewahr, dass ihre Familie nach und nach in die Stube zurückkam, bis ihre Mutter zwei Kerzen auf dem Adventskranz anzündete und das Früchtebrot dazu servierte, das sie immer zu diesen Tagen buk. Der Duft nach Zimt und getrockneten Feigen mischte sich mit dem nach den knisternden Tannenzweigen des Holzfeuers.

Die Töne der Adventslieder, die in ihren Kehlen jubilierten, tanzten durchs Zimmer, hinaus in die frostige Dämmerung.

„Erzählst du uns eine Geschichte?“, bettelte die kleine Marie, an Helene gewandt, als sie zusammen vor dem Kamin saßen.

„Soll ich euch eine vorlesen?“, fragte Helene lächelnd und deutete ihr an, die Kerze näher zu rücken, wenn auch das Halten des Buches sie sehr ermüdete.

„Nein, erzähl uns eine von dir“, bat Marie mit leuchtenden Augen.

Helene hatte ihre Lieben schon zu dem ein oder anderen Anlass mit ihren selbst ausgedachten Geschichten verzaubert. Kurz schloss sie die Lider, dann begann sie von Frostling, dem Schneemann zu erzählen, der sich auf die Reise zur Eisfee machte und viele aufregende Abenteuer bestand.

Gebannt lauschten ihre Familie, während draußen, in dunkler Nacht, die ersten Sterne am Firmament funkelten.

„Und wie geht es weiter?“, fragte Hubert gespannt, als Helene einhielt, nachdem Frostling die Eisfee gefunden hatte.

„Wird Frostling die Eisfee ehelichen?“, fragte die Großmutter, die ebenfalls entrückt gelauscht hatte.

Helene blickte nachdenklich zur Holzdecke, an die das Kerzenlicht eigenartige Gestalten malte.

„Nein“, fuhr sie langsam fort. „Das Reich der Eisfee war nicht Frostlings Zuhause, er musste wieder dorthin zurück, wo er hergekommen war.“

„In unser’n Hof?“, fragte Johannes, und spähte durch das Fenster hinaus, als könne er dort Frostling mit geschultertem Säckel entdecken.

Helene lächelte. „Ja, genau, dort blieb er, bis das Frühjahr ins Land zog.“

„Aber dann schmilzter doch“, lachte der Kleine auf.

Seine große Schwester nickte. „Genau, Hannes. Dort wird er zu Wasser für die schönen Frühlingsblumen, die dann gedeihen und sprießen können.“

Ihre Geschwister zogen betrübte Gesichter, sie hätten sich gerne ein fröhliches Ende für seine Abenteuer gewünscht.

„Der liebe Herrgott hat den kleinen Frostling zu sich gerufen, weil seine Zeit gekommen war, wie sie für jeden von uns früher oder später kommen wird, wenn Er es für richtig hält“, erwiderte Helene mit einem, für ein Mädchen ihres Alters, ungewöhnlichen Ernst. „Und auch der kleine Frostling stieg auf in den Himmel und wurde zu einem glitzernden Stern, der euch nachts den Weg heimleuchten kann.“

Der Vater stand auf und klatschte in die Hände. „Vielen Dank, Helene, das war bezaubernd. Kinder, wascht euch die Gesichter und Hände, und dann geht in die Küche, um eurer Mutter beim Abendbrot richten zu helfen.“

An Helene gewandt setzte er leise hinzu: „Du solltest deine Geschichten aufschreiben, mein Liebes. Sie sind so wunderbar, dann kannst du sie wieder und wieder anschauen, ohne dass sie dir verloren gehen.“

Erstaunt blickte die Angesprochene auf. „Oh, Vater, welch wundervoller Einfall!“

Bereits am nächsten Tag brachte der Vater ihr Papier und eine Feder aus den Schulbeständen mit. Diese Aufgabe schien ihr neuen Lebensmut einzuhauchen, ihre blassen Wangen färbten sich zartrosa, wenn sie in fremden Welten versunken am blankgescheuerten Tische saß.

Wann immer es Helenes Wohlbefinden zuließ, kritzelte die Feder eifrig über das Papier, während ihr Zünglein angestrengt von Mundwinkel zu Mundwinkel flitzte und Kerze um Kerze herunterbrannte und einen lieblichen Duft nach Bienenwachs verströmte. Doch je größer der Papierstapel wurde, je mehr Figuren Helenes Kopf verließen und sich in der pergamentenen Ewigkeit niederließen, desto schwächer wurde auch ihr Zustand wieder.

Der Bader, der wie die gesamte Familie auf Besserung gehofft hatte, stand mit sorgenvoller Miene an ihrer Ruhestätte, als ein erneuter Schwächeanfall sie darnieder raffte und sie weiß wie das Mehl in Mutters Küche in ihren Kissen lag.

Es war zwei Tage vor dem Heiligen Abend, als der liebe Herrgott Helene zu sich rief.

Das Christfest war für die Familie ein recht trauriger Anlass ohne Helene, die so viel Ruhe und Friede verströmt hatte und nun eine tiefe Lücke hinterließ.

Als die Familie unter dem Christbaum die Lieder zur heiligen Nacht gesungen und dem Herrgott für alle Gaben gedankt hatte, holte der Vater Helenes Aufschriebe hervor und begann, eine Geschichte daraus vorzulesen.

Und plötzlich ward es, als würde Helene unter ihnen sitzen, ihr Lachen verbreiten, als würde sie durch ihre Erzählungen wieder selbst lebendig werden. Ein Stück von ihr würde durch ihre Geschichten niemals in Vergessenheit geraten und immer in den Menschen um sie herum vorhanden sein, wie es seit Gedenkzeiten durch Bücher geschehen war.

Und draußen, vor dem Fenster, funkelte ein Stern besonders hell am Nachthimmel an diesem Weihnachtsabend.

(c) Ute Bareiss